Predigt 17. Januar 2021

Ein sechsjähriges Mädchen kommt mit verweinten Augen aus der Schule. „Die haben mich heute alle ausgelacht, weil ich rote Haare habe.“ Die Mutter versucht zu trösten: „Rote Haare sind schön. Der liebe Gott hat sie gemacht.“ Auf diesen frommen Hinweis schluchzt das Mädchen: „Aber bei dem lassen wir jetzt nichts mehr machen.“

Liebe Gemeinde,

wir haben es ordentlich schwer mit uns. Mit roten und mit lichten Haaren, mit zu viel oder zu wenig Pfunden, mit müden Knochen und langsam gewordenem Schritt, mit Arbeit, die nie endet, mit all der Hoffnung, mit der wir Feiertage und freie Zeit überfrachten. Mit den kleinen Möglichkeiten, die das Leben uns bietet, wo wir doch den großen Wurf gesucht haben. Mit unseren Träumen und dem, was daraus geworden ist. Manchmal haben wir den Eindruck, das Leben oder Gott fasst uns rauh an. Wenn wir am Beginn eines neuen Jahres solchen Gedanken nachhängen, spüren wir erst, wie viel Abschiednehmen in unserem Leben ist, wie viel Trauer über Verlorenes, Misslungenes, Vergangenes, Nicht-Mögliches wir mit uns tragen von einem Jahr in das andere.

Wir haben es ordentlich schwer mit uns – und erst mit den anderen! Das vergangene Jahr hat es uns gezeigt. Wir dachten, wir hätten alles im Griff. Wenn uns im Fernsehen Katastrophen vor Augen geführt wurden, traf uns das doch selten wirklich als ganze Gesellschaft. Die Probleme waren in relativ weiter Ferne. Fast immer konnten wir weitermachen, als wäre nichts geschehen. Das ist im vergangenen Jahr anders geworden und – wir wissen noch nicht, wie die neue Normalität aussehen wird. Prägende Sicherheiten sind zum Teil weggebrochen, Grundfragen des Lebens aufgetaucht: Fragen nach Existenz, Sinn, Relevanz und Zusammengehörigkeit. Das Geflecht von Gewohnheiten in unserem Miteinander, das uns Sicherheit gab, ist verloren gegangen oder ausgesetzt worden. Ja, wir sind uns fremd geworden durch Abstand und Unverständnis, durch unterschiedliche Einschätzung der Gefahrenlage und verschiedene Haltungen zu staatlichem Handeln. Das Virus hat uns egozentrischer gemacht. Wir sehen Balken und Splitter bei anderen, über die man sich permanent aufregen kann. Sie machen uns das Leben schwer.

„Seid barmherzig“ ist dann eine nützliche Empfehlung. Unsere Jahreslosung für 2021, „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ steht im Lukas-

Evangelium in der Feldrede, in der Jesus seine Jünger und eine große Volkmenge ermahnt, einander nicht zu richten, sondern selbst die Feinde zu lieben.

Doch „Barmherzigkeit“ ist ein Wort, das langsam aus unserem Wortschatz verschwindet. „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“ (Psalm 103,8) heißt es im Alten Testament. Barmherzigkeit ist zuallererst eine Wesensbeschreibung von Gott. So offenbart er sich seinem Volk Israel, so offenbart er sich in seinem Sohn Jesus. Geboren in einem Stall, Kind einfacher Leute, der mit einfachen Leuten Umgang pflegte, der die Armen seligpries, der Wunden heilte, der Verachtete und Sünder annahm, der sein Leben für die Verlorenen hingab. In dem Opfer seines Lebens kommt die größte Barmherzigkeit Gottes für uns Menschen zum Ausdruck. Gut ist dabei nicht das Blut, das geflossen ist. Aber gut ist die Leidenschaft Gottes, der nirgendwo anders sein will als dort, wo Menschen in ihrer Schwäche und Unsicherheit unterzugehen drohen.

Und wenn wir das Gefühl haben, dass Gott uns rauh anfasst und viel zumutet, dann werden wir sicher auch seine Barmherzigkeit erleben, die in der Hilfe besteht, die er uns sendet: Da gibt es Menschen, die uns anrufen, Briefe schreiben, besuchen, tatkräftig unterstützen, die uns ihre Hand reichen, wie auf dem Titelbild von Desiree Nöh zu sehen ist. Und dahinter spürt man ein mitfühlendes Herz – ein Herz, das versteht, das inne hält, das bei mir stehen bleibt. Ganz schön kommt das in dem lateinischen Wort für Barmherzigkeit zum Ausdruck: „misericordia“. Cor dare heißt „das Herz geben“, es öffnen für die Misere anderer Menschen. Solch eine Barmherzigkeit bringt wirklich Trost und Hoffnung in ein Leben, das im Dunkel gefangen zu sein scheint. Blau ist die Farbe der Hoffnung, die das Dunkel zu verdrängen vermag.                                                                                                                     

Jesus ruft dazu auf, die Rolle des Richters aufzugeben. Lassen wir Gott selbst und Gott allein Richter sein. Ein Richter, der es für gut befunden hat, den verlorenen und verdammten Menschen frei zu sprechen. Die Haltung, die uns Jesus statt dessen anbietet, ist die Geste der Barmherzigkeit: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ „Gebt, so wird euch gegeben.“ Seid großzügig, verschwen- det. Ihr selbst lebt von der überschwänglichen Güte Gottes, der bereit ist, alles für uns zu geben. Fangt an, barmherzig zu werden mit eurem Bruder, eurer Schwester, aber auch mit euch selbst. Dass man mit sich selbst barmherzig sein kann, ist oft die Voraussetzung dafür, auch mit anderen barmherzig umgehen zu können. Misericordia – das Herz öffnen für die Misere anderer. Möge das Jahr 2021 ein barmherziges Jahr werden!                                                                        Amen.

Wenn Sie möchten, können Sie in dieses Lied einstimmen, EG 58:

  1. Nun lasst uns gehn und treten mit Singen und mit Beten

zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft gegeben.

2. Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern,

wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen

3. durch soviel Angst und Plagen, durch Zittern und durch Zagen,

durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken.

4. Denn wie von treuen Müttern in schweren Ungewittern

die Kindlein hier auf Erden mit Fleiß bewahret werden,

5. also auch und nicht minder lässt Gott uns, seine Kinder,

wenn Not und Trübsal blitzen, in seinem Schoße sitzen.

6. Gelobt sei deine Treue, die alle Morgen neue;

Lob sei den starken Händen, die alles Herzleid wenden.

Mitteilungen: Solange der Lockdown besteht, finden keine Gottesdienste und andere Veranstaltungen in der Kirche statt.

Katechumenenunterricht findet donnerstags um 17.15 Uhr auf Skype statt.

Kollekte: Wer eine Kollekte geben möchte, kann sie in einen Umschlag legen und in den Briefkasten am Gemeindebüro werfen. Die Kollekte ist bestimmt für Tikato (Burkina Faso).

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag, Ihre Pfarrerin Ellen Wehrenbrecht